von Michael Markert
Alle Wissensproduktion ist zwangsläufig prozesshaft, aber dieser Prozess wird sehr viel seltener ausgestellt als sein Ergebnis. Und obgleich wissenschaftliche Wissensproduktion über kurz oder lang immer auch Textproduktion ist, ist diese nach Außen praktisch unsichtbar. „Ich schreibe seit drei Jahren an meiner Dissertation“ (bei mir waren es letztendlich fast sechs), aber die meiste Zeit schreibe ich gar nicht und wenn ich es doch tue, dann ist „Schreiben“ kaum der richtige Betriff für das Geschehende: grübeln, Literatur durchwühlen, formulieren, löschen, reformulieren, umstellen, löschen, fluchen, verfeinern, kommentieren lassen, wütend sein, umschreiben, verzweifeln, löschen… Wenig davon ist sichtbar oder soll sichtbar sein. Sicherlich auch deshalb wird dieser sehr persönliche Teil des Arbeitsprozesses gern in Ratgeberliteratur versteckt und nicht im Fachdiskurs ausgebreitet oder gar öffentlich vorgeführt.
In der Frühphase meiner Dissertation arbeitete ich nebenbei in der akademischen Schreibberatung und unterstützte Studierende in Einzelgesprächen bei der Überwindung ihrer Schreibhemmungen. In Workshops für Master- und Bachelor-Studierende habe ich zudem über etwa zehn Jahre hinweg die disziplinären Eigenheiten des Schreibens insbesondere in den Natur- und Ingenieurwissenschaften vermittelt (Markert, 2013). Nicht nur dachte ich deshalb viel über das akademische Schreiben nach. Es stellte sich für diese Arbeit auch als hilfreich heraus, die eigene Schreibpraxis zu reflektieren.
Ein solches Beispiel soll hier – auf Einladung des Kollegs „Wissen|Ausstellen“ – der Blog zu meinem im April 2020 gestarteten Forschungsprojekt sein. Es geht darin wie im zweijährigen Projekt um ein Lehrkonzept, bei dem in der Vorlesung Schattenprojektionen von physikalischen Demonstrationsversuchen an die Hörsaalwand geworfen wurden. Das Konzept entwickelte ab etwa 1919 der Göttinger Experimentalphysiker Robert Wichard Pohl für seine eigene Vorlesung, es war jedoch weltweit an Hochschulen wie Schulen über das 20. Jahrhundert hinweg erfolgreich im Einsatz. Angelegt habe ich den Blog ganz im Sinne modernen akademischen Selbstmarketings als eine virtuelle Zurschaustellung meiner aktuellen Forschungspraxis und sichtbaren Beleg von Arbeitsaktivität im Pandemie-Homeoffice. Zugleich ist er für mich persönlich eine Dokumentation meiner Tätigkeit, aufgeteilt in voraussichtlich 24 monatliche Häppchen, die zum Veröffentlichungszeitpunkt den je momentanen Recherche- und Deutungsstand zu einem Teilaspekt des Themas spiegeln.
Schon die Existenz des Blogs ist Ergebnis einer Reflexion über das Schreiben und den damit verbundenen Forschungsprozess. Im Unterschied zu früheren Forschungsprojekten will ich diesmal kontinuierlicher über die Projektlaufzeit Text produzieren, als man dies etwa bei einer Monographie tut, die einen gewissen Überblick über den Untersuchungsgegenstand voraussetzt. Zwei Jahre sind wenig Zeit und ich will die Textproduktion nicht wie zuvor in Richtung Projektende vor mir herschieben. Zweitens kreist das Thema um eine Projektions- und Demonstrationspraxis und ist damit sehr viel visueller ausgerichtet, als etwa meine vorherige Provenienzforschung zu einer Göttinger Sammlung menschlicher Embryonen und Feten (Markert, 2019; Markert, 2020). Gerade die Einbindung von größeren Bildmengen oder Filmmaterial in Analyse und Präsentation ist in einem PDF oder gedruckten Text schwieriger als auf einer Webseite. Drittens bin ich stets um Effektivität bemüht. Wenn ich ohnehin über gelesene Aufsätze und gefundene Dokumente reflektiere und sie mittelfristig als Elemente schriftlich fixierter Argumente denke, dann können diese Überlegungen auch gleich selbst in eine Publikation gegossen werden. Und zuletzt hatte ich einfach Lust, ein Online-Publikationsformat auszuprobieren und versierter im Umgang mit CSS und JavaScript zu werden.
Obgleich die Blogbeiträge den Charakter des Vorläufigen haben, gehen ihnen schon verschiedene Formen unpublizierter Texte voraus:
A) Dem Blog selbst liegt ein vorläufiger Publikationsplan zugrunde, den ich nach einigen Wochen Lektüre gegen Ende April entworfen habe. Dahinter steht die Idee, dass der Blog in aller gebotenen Oberflächlichkeit die wesentlichen Aspekte des Themas abdecken soll und gegen Projektende problemlos zu einem kapitelweise strukturierten Online-Buch umsortiert werden kann. Der Plan gliedert das Projekt für den Blog in vier Kapitel-Teile: „Konzept“ für alle meine methodischen Überlegungen, „Kosmos Pohl“ für die Elemente und Merkmale der Pohlschen Didaktik, „Bedingungen“ für alle Voraussetzungen seiner Lehre und „Rezeption“ für alle, nun ja, Rezeptionsaspekte. Zu den im folgenden Auszug grün markierten Begriffen sind Blogbeiträge veröffentlicht; der Rest bildet einen Vorrat, wobei nicht jeder Begriff tatsächlich zu einem eigenen Beitrag führen muss und gegebenenfalls durch neue Recherche- und Forschungsergebnisse weitere Themen eingeführt werden.
B) Eine zweite vorausgehende Textgattung sind Exzerpte. Christoph Hoffmann unterscheidet in „Schreiben im Forschen“ – einer der wenigen Analysen der Textproduktion in den Wissenschaften – drei Modi der Lektüre: zur Rekonstruktion eines Arguments, zur Nutzbarmachung für die eigene (Forschungs-)Arbeit und natürlich „für eine Publikation“ (Hoffmann, 2018: 243). Letzteres denke ich vom ersten Lesemoment an mit und beurteile einen fremden Text immer auch mit Blick auf die Verwertbarkeit für einen noch fiktiven, zukünftigen, eigenen Text. Meine im Literaturverwaltungsprogramm Zotero geführten Exzerpte enthalten deshalb häufig längere wörtliche Zitate. Die Funktion eines gelesenen Textes in meinem Forschungskontext bilde ich in einer grafischen Ordnung der Exzerpte ab, die auf einer unbegrenzten virtuellen Fläche thematisch gruppiert werden.
Beim Verfassen eines Blog- oder sonstigen Textes zoome und scrolle ich mich durch diese Grafik und habe so große Materialmengen schnell im Überblick.
C) Zuletzt führe ich ein Forschungstagebuch, in dem ich (so ich es nicht schlicht vergesse) täglich in aller Kürze festhalte, was ich getan habe. Zentrale Ideen und Argumente finden sich darin ebenso, wie knappe Zusammenfassungen gelesener Texte, wenn sie von einer gewissen Relevanz sind. Auch die Eignung für einen zukünftigen Blogbeitrag wird hierin vermerkt.
D) Den konkreten Blogbeitrag bereite ich meist mit einer handschriftlichen, stichpunktartigen Outline und manchmal ein paar vorläufigen Einleitungssätzen oder zentralen Aussagen vor. Der Beitragstext selbst entsteht wie alle meine kürzeren Texte im Texteditor Writemonkey. Writemonkey nimmt den ganzen Bildschirm ein und man wird nicht von aufpoppenden Emails abgelenkt oder zu einer kurzen Nachrecherche im Browser verleitet. Manchmal drucke ich mir auch Teile meiner Exzerpt-Grafik aus, um nicht am Laptop zwischen Programmfenstern wechseln zu müssen.
Wie sich beim Schreiben immer wieder zeigt, ist der größte Vorteil eines solchen Forschungsblogs zumindest für mich auch die größte Herausforderung – die Vorläufigkeit der kleinen, zuweilen recht spontanen Texte: Im Beitrag zum Oktober 2020 etwa schrieb ich über Pohls dreiteiliges Lehrbuch als wesentliches Element für Darstellung und Vermittlung seines didaktischen Konzepts. In der enthaltenen Übersicht aller Auflagen sind die schon für eine Tiefenanalyse ausgewählten Ausgaben jedoch nicht markiert, obgleich ich eine entsprechende Grafik habe. In der akademischen Forschungslandschaft werden Publikationsformate wie ein Blog (oder auch eine Ausstellung) geringer geschätzt als etwa Sammelbandbeiträge oder Zeitschriftenartikel. Zentrale Ideen und spannende Quellenfunde halte ich deshalb für spätere Aufsätze zurück.
Der Schattenprojektionen-Blog stellt also in gewisser Weise meine Forschungspraxis aus. Die Entstehung der Texte selbst bleibt dabei jedoch wieder unsichtbar und somit auch, dass der zur Schau gestellte Arbeitsprozess durch eine professionalisierte Schreibpraxis in spezifischer Weise konstruiert und inszeniert ist. Dafür braucht es diesen Meta-Blog-Beitrag, der zumindest Teile dieser Prozesse transparent macht – mir selbst, aber auch den imaginierten Rezipient*innen. Dabei entstehen neue Leerstellen, die auch mir vorher so nicht bewusst waren. Würde ich für eine Monographie tatsächlich mehr Überblick benötigen, als für einen Blog, wo sich doch beides im Arbeitsprozess ständig verändert? Wie genau schreibe ich eigentlich an einem Einzelbeitrag und welcher Teil der Vorarbeiten spielt dabei welche Rolle? Sollte ich an einem Beitrag nach Veröffentlichung noch etwas weiterschreiben, um die gezielt ausgelassenen, aber schon durchdachten Informationen gleich in einem Argumentationsgang zu fixieren und nicht diese Arbeit später noch einmal machen zu müssen?
Wie das Schreiben selbst ist auch das Reflektieren darüber ein Prozess, der von einem Publikum profitiert. Ich freue mich über Gedanken, Anregungen, Kommentare und natürlich auch Besuche auf meinen Blog!
Literatur:
Hoffmann, Christoph (2018): Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte. Tübingen.
Markert, Michael (2013): Schreibberatung für Natur- und IngenieurswissenschaftlerInnen. Ein Erfahrungsbericht. In: Journal der Schreibberatung, Ausgabe 7: S. 76-84.
Ders. (2019): Die „Humanembryologische Dokumentationssammlung Blechschmidt“: Geschichte einer sensiblen Sammlung, 1939-1973. Ergebnisse und Empfehlungen des Provenienzforschungsprojektes, URL: https://doi.org/10.3249/ugoe-publ-2.
Ders. (2020): Modellierte Individualentwicklung. Humanembryologische Praktiken an der Universität Göttingen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: NTM Bd. 28: S. 481-517, URL: https://doi.org/10.1007/s00048-020-00275-3.
Michael Markert ist PostDoc an der Professur für Materialität des Wissens Göttingen und assoziiertes Mitglied im Kolleg „Wissen | Ausstellen“.
Der Beitrag wurde redaktionell betreut von Johanna Strunge, Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“.
Vielen Dank für den (viel zu selten gesehenen) Einblick in (d)eine Forschungspraxis. Ich finde es kommen hier drei Dinge zusammen, die das Format des Blogs ganz allgemein erhellen a) die repräsentative Funktion eines möglichst umtriebigen wissenschaftlichen Outputs, b) das Mittel zur Reflexion und c) eine Struktur für das Schreiben, die nicht alles bis zum Schluss aufschiebt, sondern das vorläufige Wissen in Kauf nimmt und vielleicht sogar produktiv macht. Ich bin begeistert – und neugierig, wie du die Spannung zwischen den drei (;-) Polen am Ende auflöst.
Als Schreibprozessforscherin und Schreibberaterin freue ich mich sehr über diesen Blog! Eine tolle Möglichkeit, den Prozess des Schreibens endlich einmal aus dem Verborgenen herauszuholen! Das Bild der Schattenprojektionen hierfür gefällt mir besonders gut.