Was wir (nicht) sehen – Ein physischer und virtueller Ausstellungsrundgang über Rassismus und Widerstand im Vergleich

von Daniela Döring und Johanna Strunge

Screenshot der virtuellen Ausstellung

Wir besuchen die Sonderausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment“ im Historischen Museum Frankfurt unter Pandemiebedingungen. „Wir“, das heißt: Daniela zu Hause am Computer, Johanna vor Ort mit Maske. Nach Online-Anmeldung steht für den Ausstellungsbesuch ein Zeitslot von zwei Stunden zur Verfügung. Was für ein Glück, die Ausstellung physisch vor Ort in Frankfurt sehen zu können: Das Historische Museum öffnet die Türen nur wenige Tage, bevor die Sonderausstellung endgültig geschlossen wird. Der virtuelle Rundgang ist dagegen eine Art Notlösung, doch sind wir beide neugierig, was wir wohl unterschiedlich sehen und wahrnehmen werden. Wir wollen den physischen und virtuellen Rundgang vergleichend unter die Lupe nehmen und entscheiden uns für folgende Kategorien: Raumerfahrung, Objekte, Emotionen, Autor:innen und Möglichkeiten der Partizipation. Los geht’s, das Experiment kann beginnen!

Raumerfahrung – Mission abort?

Irgendwie klicke ich daneben. Rasant fahre ich an meinem gewünschten Ziel vorbei. BÄM! Ich versuche, zurückzukommen. Mir wird etwas schwindelig vom hoch und runter, rechts und links Fahren. In welchem Modus bin ich eigentlich? Nochmal langsam, ich brauche erstmal einen Überblick. Ich klicke zunächst auf den Grundriss, in den ich rein- und rauszoomen kann, allerdings ist in der Draufsicht von der eigentlichen Ausstellung nicht wirklich etwas erkennbar. Als nächstes aktiviere ich das „Dollhouse“, eine Art Miniaturmodell der Ausstellung, das ich wie eine Art Raumschiff im schwarzen Raum drehen und wenden kann. Nur wo ist der Anfang? Welche Ausstellungseinheiten gibt es? Hinter einem kleinen Pfeil finde ich die „Höhepunkte“, neun Folgen, die einzeln anklickbar oder in einer Abfolge abspielbar sind. Ich wähle die letzte Option. Nun fährt die Kamera neun Szenen ab. Es sind 360 Grad-Bilder, die von einem festen Standpunkt aus mal nach links und mal nach rechts schwenken oder sich um sich selbst drehen. Das Tempo ist mir viel zu schnell, eine Orientierung im Raum bekomme ich so nicht. Egal, ich nehme den vorgeschlagenen Rundgang der neun Etappen, komme jedoch von einem systematischen Besuch schnell ab. Vielmehr folge ich den auffälligen Kreisen, die auf dem virtuellen Boden oder im Ausstellungraum zu meinem Leitmedium werden. Durch das Anklicken der roten, gelben oder blauen Punkte klappen sich Wand- und Objektexte, Interviews, Videos und Bilder aus. Mein Ausstellungsbesuch wird zu einer Mischung aus surfen, zappen und zerstreuen und ich wünschte, vertrauter mit diesen Formen der Gamification zu sein.

Screenshot der virtuellen Ausstellung

Mich physisch durch Ausstellungen zu bewegen, ist mir vertraut. Inzwischen habe ich meine Routinen: Ich gehe immer erst einmal im Schnelldurchgang durch, so sehe ich, mit welcher Größe und welchem Umfang ich es zu tun habe. In Frankfurt: Eine Etage, großes Oval, viele Themeninseln. Gut machbar und zugleich doch schon eine große Ausstellung. Bei manchen Stationen frage ich mich, zu welcher thematischen „Insel“ sie gehören. Obwohl die Ausstellungsbereiche nicht klar voneinander getrennt sind, wird meine Aufmerksamkeit von Begriffen wie Kolonialismus, Rassismus, Intersektionalität und Grenzregime immer wieder in den Bann gezogen und letztlich auch durch die Ausstellung gelenkt. Schnell wird mir klar, wie viele Spuren der Kolonialgeschichte sich in Frankfurt finden lassen und wie divers die Stadtgesellschaft letztlich schon immer war. All das wirkt bis heute nach und ist besonders für von Rassismus Betroffene aus Frankfurt täglich (oft schmerzlich) zu spüren. Am Ende meines zweistündigen Besuches orientiere ich mich mühelos im Raum. Als die letzten paar Minuten anbrechen, eile ich noch einmal gezielt zu einigen Stationen, um etwas nachlesen. Und doch suche ich bis zum Ende ein bestimmtes Objekt, von dem ich dachte, dass es in der Ausstellung zu sehen sei.

Auf der Suche nach Objekten

Motiviert hatte meinen Besuch der Ausstellung ein Spielzeug-Kolonialwarenladen, auf den ich bei meinen Recherchen gestoßen war. Doch er ist einfach nicht zu finden. Stattdessen entdecke ich viele andere Objekte, die mein Interesse wecken. Gleich zu Beginn etwa, als ich noch die letzten Treppen zur Ausstellung nehme, prangt ein großes Protestbanner „ALLTAGSRASSISMUS BEKÄMPFEN. AUCH DEINEN EIGENEN“. Das Banner ist riesig und ziemlich eindrücklich, wie es so über mir hängt. Der Satz gefällt mir, ebenso die Geschichte von Miyase Ceren, der Aktivistin, die dieses Banner mehrmals anfertigte und von Angriffen auf und Unterstützung für das Plakat berichtet. Oder die Hands-On-Objekte, die extra für die Ausstellung hergestellt wurden. So verbringe ich viel Zeit vor einer Frankfurt-Karte an der Wand, die mit Postkarten versehen viele Orte kolonialer Kontinuitäten anzeigt und stetig erweiterbar ist. Unweit davon liegt ein großes, mit rotem Stoff eingeschlagenes Buch mit der Aufschrift „Grosser Deutscher Kolonialatlas“, darunter ein goldener Adler. Als ich das Buch aufschlage, muss ich schmunzeln, es ist komplett leer und eben nicht das historische Dokument, das ich erwartet hatte. Auf diese Weise wird das Machtwissen geographischer Karten problematisiert und eben nicht reproduziert. Es sind gerade diese nicht unbedingt klassischen Objekte – wie etwa aktuelle Kinderbücher, künstlerische Fotografien, Plakate und Videos – die für mich den Reiz der Ausstellung ausmachen. Viele Themeninseln im Raum haben ihren ganz eigenen Look und werden dadurch selbst zu wichtigen Objekten im Raum. Am besten klappt das für mich in der Station, die mehr als menschenhoch den Satz „BIST DU WEISS?“ ausstellt. Denn die mit Spiegelfolie ausgestatteten Buchstaben laden mich selbst zur Reflexion und Selbstmarkierung ein. Die Größe der Buchstaben macht deutlich, wie zentral und notwendig eine Selbstpositionierung im Kontext von Kolonialismus und Rassismus ist.

Ausstellungsansicht vor Ort

Die Buchstaben „BIST DU WEISS?“ wirken auf mich im Online-Besuch nicht sehr mächtig. Generell stehen Objekte hier eher im Hintergrund. Gibt es sie überhaupt? Im Display dominieren Texte, Töne und Filme. Die Objekte selbst bleiben für mich entfernt, sie sind kaum zugänglich, schwer zu sehen, trotz großem Zoom komme ich nicht an sie heran. Oft erkenne ich nicht die Details, die ich zu sehen hoffe. Was allerdings vorhanden und besichtigt werden kann, ist der von Johanna gesuchte Kolonialwarenladen. Er hat die analoge Verlängerung der Ausstellung nicht mitmachen können, seine Vitrine wurde anderweitig im Haus gebraucht. Die Übersetzung ins Digitale, der oft etwas Defizitäres anhaftet, zeigt an dieser Stelle also mehr Objekte, als in der Ausstellung vor Ort zu sehen sind.

Kolonialwarenladen in der virtuellen Ausstellung

Emotionen – an ganz unterschiedlichen Stellen

An einer Stelle im Raum treffe ich auf eine Objektfülle, die sich beim genauen Hinsehen zugleich in eine erschreckende Dingleere umkehrt. Es ist ein mit „Was bleibt?“ betitelter Ausstellungsbereich, der den Nachlass des getöteten Matiullah Jabarkhel zeigt. Ein junger Mann aus Afghanistan, der nach drei Jahren als Geflüchteter in Deutschland von der Polizei in einer bisher ungeklärten Situation erschossen wird. Doch nicht nur der Tod ist erschreckend, sondern auch, dass er unter extrem ärmlichen Bedingungen gelebt hat. Alles, was von seinem Leben materiell bleibt, liegt hier in vier aneinandergereihten Vitrinen. Darunter ist auch ein Schreiben der Bank, dass eine Zahlung über 30 Euro nicht getätigt werden konnte, weil das Konto dafür nicht genug Deckung aufwies. In der ganzen Ausstellung mache ich recht viele Fotos für das spätere Nachdenken über die Ausstellung, hier kann ich es nicht. Der junge Mann ist tot und ich stehe nur ein paar Zentimeter von seinen Jeans und Armbändern entfernt. Selten hat mich eine Ausstellungssituation so berührt und zugleich auch etwas überwältigt.

Im Onlinemodus nähere ich mich der tragischen Geschichte von Matiullah Jabarkhel eher rational als emotional. Ich sehe zwar die Objekte, die ihm gehörten, erfasse allerdings nicht, dass die wenigen Dinge sein kompletter Besitz sind. Vielleicht ist es in dem digitalen Raum auch gar nicht möglich, jene Materialität zu transportieren, die wir spüren, wenn wir diese Objekte unmittelbar vor uns haben und nachempfinden, dass diese Kleidung gerade noch in Gebrauch war oder die Zahnbürste einmal benutzt wurde. Allerdings berührt mich die Kunstinstallation „Limbo Citizen“ von Lillian Dam Gracia und Pien den Hollander, die ich gleich zu Beginn meines Ausstellungsrundganges besichtige. Zuerst sehe ich einen Film: Die Kamera irrt entlang der fragilen Zeltwände, der Sound – ein dauerhafter, leicht pulsierender, monotoner Ton – wirkt auf mich bedrohlich, düster und wie eine Endlosschleife. Die Kommentare ergreifen mich in ihrer Aussichtslosigkeit, Gewalterfahrung, ihren Fragen, Ungerechtigkeiten und ihrer einstigen Hoffnung. Hinter der Wand lässt sich ein Mensch erahnen, er bleibt aber nebulös, geisterhaft, abwesend, verloren. Es sind jedoch die filmischen Mittel und die Erzählungen von „Betroffenen“, die mein Gefühl von Berührung erzeugen, nicht das Display bzw. die Ausstellung selbst.

Wer spricht? Aber wie?

In der Online-Ausstellung kommen sehr viele unterschiedliche Stimmen zu Wort – mündlich, schriftlich und visuell. Die meisten Ausstellungstexte stammen von konkreten, namentlich benannten Personen. Es scheint, dass die Ausstellung ganz viele gemacht und „geschrieben“ hätten. Es gibt kein Masternarrativ, keine unsichtbare, allwissende kuratorische Stimme aus dem Off. Das ist bei diesem Thema sicherlich eine bewusste Entscheidung und nur allzu folgerichtig. Dennoch frage ich mich, welche (unsichtbaren) Hände dies alles zusammengehalten und -geführt haben. Nur zu gern wüsste ich mehr über den kuratorischen Arbeitsprozess, welche Personen und Initiativen an der Ausstellung (wie) mitgearbeitet haben und welche Stimmen „nur“ platziert wurden.

Auch in der Ausstellung vor Ort ist das so: hier sind viele Autor:innen am Werk. Ich stelle das schon nach ein paar Ausstellungsmetern fest und freue mich zunächst sehr daran. Beim Fortschreiten durch die Ausstellung ermüdet es mich dann aber etwas. Die Sprache ist überall ein wenig anders gewählt, auch bleiben viele Autor:innen trotz Namen und Nennung irgendwie unsichtbar, hinter Kollektivbezeichnungen oder eben hinter der bloßen Nennung ihrer Namen ohne Zusatzinformationen. Ich ertappe mich dabei, dass ich manche Stationen überspringen will. Die vielen Einzelpositionen geben mir das Gefühl, dass ich nicht alles lesen und angucken muss, um die gesamte Ausstellung zu verstehen. Aber was muss man in einer fragmentarischen Ausstellung denn aufnehmen, um die Ausstellung gut zu durchdringen – ein paar oder alle Fragmente? Ich merke mit etwas Unbehagen, dass ich mir doch irgendwie eine strukturierende Meta-Narration wünsche.

Partizipation – verkehrte Welt

Es sind nur wenige Menschen in der Ausstellung. Eine Mitarbeiterin fragt mich, ob ich eine liebste aktivistische Tätigkeit habe. Ich klebe kurzentschlossen einen roten Punkt in die Rubrik Wissenschaft/Forschung. Sie überreicht mir einen Privilegiencheck, den ich jedoch mit nach Hause nehme, anstatt ihn gleich auszufüllen, meine verbleibende Zeit rennt. Viele der Partizipationstafeln, Klebewolken und Zettelwände sind dicht bepackt. Ich lese interessiert, was meine Mitbesuchenden hier so alles hinterlassen haben. Auf der Karte haben sie beispielsweise Hinweise auf Geschäfte wie Edeka und die Europäische Zentralbank vermerkt und schlagen vor, auch diese auf koloniale Kontinuitäten zu untersuchen. Es sind auffällig viele kritische Kommentare, doch wann und von wem wurden sie befüllt, wenn die Ausstellung so lang geschossen war und wieso mit Bleistift?

Ausstellungsansicht vor Ort

Solche Spuren und Notizen von anderen Ausstellungsbesucher:innen sind online nicht lesbar. Ich sitze allein vor meinem Laptop und klicke, steuere, navigieren, lese und höre. Im virtuellen Raum gibt es darüber hinaus keinerlei Möglichkeiten des Mitmachens, des Eingriffs oder der Teilhabe. Der Aufforderung der Kuratorinnen am Anfang des Stadtlabors, sich die Ausstellung zu zweit oder dritt anzuschauen oder wenn alleine, sich hinterher auszutauschen, würde ich gerne nachkommen, doch vorerst bleibe ich mit meinen Gedanken alleine. Angesichts des großen Versprechens der Partizipation und Vernetzung, das mit dem Digitalen oft einhergeht, ist das ein überraschender Befund.

Überraschendes Fazit

Unsere Diskussion über die unterschiedlichen Ausstellungserfahrungen bringt noch weitere Überraschungen zu Tage. So wird von uns beiden oftmals angenommen, diese oder jene Situation könne in dem jeweiligen anderen Medium besser gelöst werden. Doch dies zeigt sich in der Umsetzung meist anders als erwartet: Die Kunstinstallation „Limbo Citizen“ hat digital gut funktioniert, vor Ort jedoch nicht. Der Kolonialwarenladen war in der Ausstellung selbst nicht zu sehen, sondern nur im virtuellen Raum. Die online schwer zu erzielende Orientierung im Raum ist auch beim physischen Besuch ein herausforderndes Unterfangen. Das größte Defizit der virtuellen Version ist freilich das fehlende Gehen, das so zentral für den Denk- und Erkenntnisprozess ist. Das digitale Erkunden ist ein sprunghaftes, sporadisches, kurzweiliges „Surfen“, das oft vor dem eigentlichen Ende einer Audio- oder Videoaufnahme abbricht und einen nächsten Verweilpunkt sucht. Diese Form des Konsumierens scheint dem Thema irgendwie unangemessen. Und dennoch passt die Art und Weise des Durchreisens gespenstisch gut zum Inhalt der Ausstellung, auch wenn sich ein solches Fremdheitsgefühl selbstverständlich mit erlebtem Rassismus nicht vergleichen lässt. Der digitalen Ausstellung wäre zu wünschen, anstatt dieser Form der Vereinzelung stärker solidarisierende und unterstützende Impulse erzielen zu können. Beim analogen Besuch fällt hingegen der starke Fokus auf Fragen des Empowerments auf. Beteiligte der Ausstellung berichten von ihrem Wunsch, dass ihre Geschichten gehört und sichtbar werden. Dafür werden vielfache Methoden des Austauschs und der Wertschätzung genannt: Miteinander Reden, Vorträgen und Gedichten lauschen, gemeinsam Tanzen. Vieles von dem ist inmitten der Pandemie erschwert und kann auch weder in einer nahezu leeren Ausstellung noch von ihrer digitalen Schwester ermöglicht werden. Und trotzdem ist es gerade in diesen Krisenzeiten wichtig, in denen sich Ungleichheiten und Rassismus zu verschärfen drohen, sich (selbst-)kritisch mit beidem auseinanderzusetzen. Hierzu bieten Ausstellungen wie „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ eine gute Gelegenheit.

Zur virtuellen Ausstellung „Ich sehe was, was Du nicht siehst. Rassismus, Widerstand und Empowerment“, Stadtlabor des Historischen Museums Frankfurt: https://my.matterport.com/show/?m=Sf1xWaqd95p&help=1&lang=de

Zu den Autorinnen:

Daniela Döring ist Postdoktorandin am Kolleg “Wissen | Ausstellen”. Sie untersucht aktuelle Ausstellungen akademischer Sammlungen und wissenschaftlicher Praktiken.

Johanna Strunge ist Doktorandin am Kolleg “Wissen | Ausstellen” und erforscht post-koloniale Kontinuitäten musealer Räume.

Der Beitrag wurde redaktionell betreut von Franziska Lichtenstein, Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.