von Daniela Döring und Johanna Lessing
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In Zeiten der Pandemie gibt es zuweilen kurze Lichtblicke. Im Jahr 2020 eröffnete nach langjähriger Vorbereitung das Genter Universitätsmuseum (GUM), das seither dem Publikum für limitierte, online buchbare Zeitfenster zugänglich ist. Das Forum for Science, Doubt and Art steht für ein neuartiges Ausstellungsprogramm: Akademische Objekte werden hier nicht als Resultate und Schlusspunkte wissenschaftlichen Arbeitens gezeigt. Vielmehr ist das „brain of scientists“ selbst Gegenstand der Ausstellung – so der Ankündigungstext auf der Website. Wir können also Akademiker:innen beim Denken zusehen und dem selten geradlinigen Prozess, dem Irrtum und Zweifel, aber auch der Schönheit des wissenschaftlichen Tuns beiwohnen.
Aufgrund der pandemischen Lage haben wir die Ausstellung selbst noch nicht besuchen können. Doch erschien kurz nach der Eröffnung ein kleines, aber mit viel Verve geschriebenes Büchlein der Direktorin des GUM, Marjan Doom, mit dem Titel „The Museum of Doubt. A Modest Manifesto by a Science Curator“. Auch ein TED talk der Museumskuratorin und ein Interview mit Sébastien Soubiran (President of Universeum, European Academic Heritage Network) geben spannende Einblicke in das kuratorische Unterfangen. Für uns Anlass und Stoff genug, um das emphatische Plädoyer des Buches einmal genauer zu beleuchten.
Nicht der Erfolg zählt, sondern der Prozess
Die immer gleiche Geschichte der großartigen Wissenschaft und ihrer meisterhaften (meist männlichen) Erfinder und Entdecker lässt alle Wissenschaftsmuseen einander gleichen. „carbon copies of the same thing over and over again” (S. 37) nennt Marjan Doom das und tritt sogleich an, es besser zu machen. Ihr Buch „The Museum of Doubt: A Modest Manifesto by a Science Curator” ist ein kuratorisches Glaubensbekenntnis, das verbunden wird mit der Aufforderung Wissenschaftsvermittlung, weniger auktorial, weniger zurückhaltend, weniger abgesichert zu gestalten. Doom argumentiert dafür, eine menschlichere, und damit meint sie auch fehlerhafte, irrende und auch verletzlichere Wissenschaft öffentlich zu machen. Denn die Reduktion auf das Ergebnis ignoriere, warum und wie die Forscher:innen vorgegangen seien, wie viele Umwege und Rückfälle es gab. Die Darstellung als Erfolg einer (möglichst eindrucksvollen) Person missachte, dass hinter einem Namen in der Regel ganze Forschungsgruppen und verschiedene Professionen stehen.
Wissenschaft verläuft nicht geradlinig. Vielmehr ist die Suchbewegung des Forschungsprozesses geprägt von immer neuem Prüfen, immer neuem Ausprobieren und Umorientieren. Viel entscheidender als das publikationsreif abgesicherte Resultat ist also – so Dooms zentraler Punkt – der Zweifel. Er treibe Denkbewegungen voran und optimiere Experimentalanordnungen. Er bilde den eigentlichen Kern von kreativer, wissenschaftlicher Arbeit. Wissenschaftliche Museen könnten mit dem Ausstellen des Zweifels und des Weges nicht nur angemessener und treffender Wissenschaft als Praxis thematisieren. Vielmehr stellt der transparente und teilhabende Einblick in die Methoden einer dynamischen Forschung die politische Verantwortung der Wissenschaftsvermittlung dar, sich gegen Dogmatisierung und für ein demokratisches Sowie, im Sinne der Fehlerkultur, für ein menschliches Miteinander einzusetzen. Im GUM ist deshalb der Zweifel Triebfeder der kuratorischen Konzeption.
Neue – oder alte – Allianzen?
Ja aber, wenn die akademische Wissensproduktion als ein unabgeschlossener, experimenteller Prozess dargestellt werden soll, wie genau kann das im Ausstellungsraum aussehen? „The solution is not to practice science in an ivory tower without participating and then talk about the success stories” (S. 15) konstatiert Marjan Doom. Als Taktik für diesen Anspruch dient der Autorin die Allianz zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Kunst wird zum Spotlight für andere Erzählungen, für neue Fragen und überraschende Blickwinkel, für unerwartete Objektkonstellationen, für emotionale Berührung und gedankliche Involvierung. Ihr wird die Fähigkeit zugeschrieben, individuelles kritisches Denken „outside-the-box“ (S. 21) zu evozieren, um Wahrheiten nicht unhinterfragt zu akzeptieren und gesellschaftliche Verantwortung zu aktivieren. Als Wissensmodus wird sie von der Autorin dem quantifizierten und verobjektivierten (naturwissenschaftlichen) Wissen diametral entgegengesetzt. Kunst und Zweifel werden zu kuratorischen Strategien, die als Brechungslinsen der Geradlinigkeit bisheriger Wissenschaftsschauen dienen (sollen).
Überraschende Verbindungen
Ja aber, greift die Kunst als Gegenfolie zur Wissenschaft nicht zu kurz? Was genau kann sie leisten? Die Kunst könne – so die Kuratorin – über die vermeintliche Linearität der Wissenschaft hinweghelfen, weil sie assoziativ vorgehe und existenzielle Fragen aufwerfe. Das geteilte Erlebnis, ein (wissenschaftliches) Exponat zu betrachten, könne vergleichbare Effekte haben. Die künstlerische Allianz ermögliche bzw. erleichtere das ganz wesentlich. Es komme darauf an, die Besucher:innen durch eine neue Erzählweise zu überraschen. Wie das geht, erläutert Doom an einem Beispiel, der Ausstellung „post mortem“, die sie 2015 mit Chantal und Pascal Polier kuratiert hatte (S. 33). Die Ausstellung fand im gerade leer gezogenen pathologischen Institut, zum Teil in den Fluren, Büros und Sezierräumlichkeiten statt. Durch Videoinszenierungen wurde die jüngste Geschichte des Seziertisches aufgerufen und durch künstlerisches Re-Enactment ein immaterielles Wissen zwischen Ort, Instrument, Besuchenden und Kunstwerk thematisiert. Eine weitere Ausstellung, die beispielhaft für das GUM steht, ist die Installation eines riesigen Walskeletts 2017 in der Saint Bavo Cathedral in Gent. Das Skelett wurde – anstelle einer Objektbeschreibung – mit einem Gedicht von Peter Verhelst kombiniert. Genau dies fordere die Besuchenden heraus, (eigene) Verbindungen zwischen beiden zu kreieren.
So entstehen Vorstellungsräume, die persönlich, neu und unberechenbar seien. Marjan Doom begrüßt gerade diese individuelle Ebene. Das Überraschungsmoment gelinge durch Inszenierungen, die bewusst den Umgebungsraum einbeziehen und Erwartungshaltungen an Wissenschafts-Exponate subvertieren und so Wirkung erzeugen, die über den reinen Informationsgehalt hinausgehen. Die räumliche Konstellation nämlich ‘speichere’ ihre Informationen in „deeper layers, as is the information content connected to it” (S. 31 f.). Dass das durchaus irritierend sein kann, damit rechnet die Kuratorin. Es ist sogar ihr Ziel, die Besucher:innen aus ihrer Comfortzone zu holen und „a bit of healthy stimulating confusion in the minds of the visitors” (S. 33) zu pflanzen.
Eine universale Sprache?
Ja aber, welches Publikum wird hier imaginiert? Welche Erwartungen und welche Konventionen sollen gebrochen werden? Und in welches Verhältnis rückt die Kuratorin zu ihnen? Kunst wird im Museum des Zweifels als nicht-wissenschaftliche und übergreifende Sprache verstanden. Mit ihrer Hilfe werden sozusagen die Spezialsprachen der Disziplinen in eine andere, quasi universale Sprache übersetzt. Dabei sei eine gleichermaßen so persönliche und unverwechselbare Erfahrung mit wissenschaftlichen Instrumenten viel schwerer zu erreichen als mit Kunst. Letztere berühre universale und zeitlose Dinge, die uns als Menschen verbänden und ein gemeinsames Erlebnis möglich machten. Und doch ist diese Universalsprache nicht so allgemein verständlich und zugänglich, wie es scheint. Vielmehr wird hier Vorwissen in Bezug auf Wissenschaftsausstellungen und eine Vertrautheit mit Kunst vorausgesetzt.
Was dabei seltsam unberührt bleibt, ist die Objektivität oder der Wahrheitsanspruch der Forschung selbst. Während die Ausstellung oder in einem weiteren Sinne die Darstellung und Präsentation wissenschaftlicher Arbeit in und für die Öffentlichkeit die individuellen Erfahrungsräume ausdehnen und multiplizieren sollen, bleiben die Tatsachen, die Ergebnisse und Apparate, unangetastet. Man könnte sagen, hier wandelt sich der Mythos Wissenschaft als lineare Erfolgsgeschichte hin zu einer Ästhetisierung des Forschens. Dabei haben sich zwar die Inhalte verändert, die Logik von Wissenschaftskommunikation, gedacht als Vermittlung von A nach B oder von Expert:innen zu Lai:innen, jedoch nicht.
Mit Marjan Doom kuratieren, heißt eine neue künstlerische Erzählweise zu versuchen, in der Überraschung ebenso wie Fehler und Verletzlichkeit im Paradigma des Zweifels aufgehoben sind. Es heißt aber auch, einer neuen Meister:innenerzählung zu folgen, nämlich jener der „science curator“, als die sich Doom im Laufe ihrer Erzählung selbst entpuppt und die nach wie vor harte Forschungsfakten auf neue (richtige) Art und Weise an die Menschen bringt. Was aber wäre, wenn man Kunst und Wissenschaft sowie Ausstellung und Forschung nicht so strikt voneinander trennen würde? Und Kunst sowie Ausstellungen nicht als Illustrationen der Wissenschaft nachrangig und instrumentell einsetzt? Ließe sich das kritische, selbstreflexive und persönliche Moment nicht in der Wissenschaft selbst finden? Und könnte der Ausstellungsraum dann selbst zum Ort der Forschung werden? Im Museum des Zweifels werden diese Fragen sehr gut aufgehoben sein. Auf weitere Überraschungen können wir gespannt sein.
Publikation von Marjan Doom: The Museum of Doubt. A Modest Manifesto by a Science Curator. Academia Press 2020.
Daniela Döring ist Postdoktorandin am Kolleg “Wissen | Ausstellen”. Sie untersucht aktuelle Ausstellungen akademischer Sammlungen und wissenschaftlicher Praktiken.
Johanna Lessing ist Doktorandin am Kolleg “ Wissen | Ausstellen“ und erforscht die Ausstellbarkeit von menschlichen Überresten in wissenschaftlichen Sammlungen.
Der Beitrag wurde redaktionell betreut von Sonja E. Nökel, studentische Mitarbeiterin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“.
Sie finden diesen Blogbeitrag als zitierfähigen DOI-Artikel auf GRO.publications: https://doi.org/10.47952/gro-publ-108.
Wäre ja schön, wenn das Forum Wissen Göttingen solche (Er)Kenntnisse vermitteln würde. Der jüngste Artikel im Spiegel vom 5.3.2022 läßt ahnen, daß eine solche Sicht von an der Universität maßgeblichen Leuten nicht geteilt wird. Schade!
Herr Tolan und sein Präsidium vergeben leider eine riesige Chance.