Ein Beitrag von Johanna Lessing
Aufgrund der Corona-Pandemie konnte das Zentrum für Kultur und Medien (ZKM) seine neue Ausstellung Critical Zones – Horizonte einer neuen Erdpolitik nicht wie geplant eröffnen. Die Ausstellung war nicht fertig, ohnehin hätte mitten im Lockdown niemand oder kaum jemand kommen dürfen. Das ZKM hat aus der Not eine Tugend gemacht und stattdessen ein dreitätiges Hybrid-Spektakel aus Online-Podien, virtuellen Führungen, Film-Streamings und Gesprächen veranstaltet. Vom 22. Bis 24. Mai fand diese Virtuelle Eröffnung und Streamingfestival: Critical Zones statt, kuratiert von einer Gruppe um Bruno Latour und Peter Weibel. Wir, Ramona Bechauf und Johanna Lessing, haben mitgemacht und sind nachhaltig beeindruckt. In einer kleinen Artikelserie gehen wir Beobachtungen und Anregungen aus dem Festival nach.
Meine aktuelle Aufgabe ist die Sammlungsrecherche zu 14 präparierten Herzen aus dem frühen 20. Jahrhundert (hier Ansicht aus dem Depot mit verpackten Herz-Präparaten). Die Wachspräparate sind an der Universität Halle entstanden und zeigen Spuren angeborener und erworbener Herzfehler. Sie stammen wahrscheinlich von Patient*innen der Universitätsmedizin Halle und sind zeitnah nach dem Eintreten des Todes präpariert worden, vermutlich zu Forschungszwecken. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte sind die Präparate über verschiedene Stationen schließlich dem Deutschen Medizinhistorischen Museum Ingolstadt (DMMI) übergeben worden. Im Rahmen meines Praxisjahres am DMMI interessiert mich die Einbettung dieser Präparate in die Sammlung des Museums. Dafür brauche ich ein besseres Verständnis der Sammlung: Was gibt es noch? Was gibt es überhaupt? Welche weiteren und anderen Dinge, die man menschlichen Überresten zuordnen kann, hat die Sammlung? Welche Sammlungsobjekte in Zusammenhang mit ‚Herz‘ oder mit ‚Präparat‘ sind noch vorhanden? Das sind Fragen, denen ich mithilfe der Datenbank, meiner Kolleg*innen vor Ort und eigener Recherche nachgehe. Aber reicht das?
„Herz“ bietet darüber hinaus beinahe unendliche Möglichkeiten für metaphorische, historische, medizinische, subjektivistische, animistische, technische, kulturwissenschaftliche, fiktive usw., Anknüpfungen. Zwar habe ich es hier mit Dingen zu tun, aber auch mit materiell auf Dauer gestellten ‚Überbleibseln‘ von verstorbenen Personen. Wie kann eine ethisch angemessene materielle Kulturgeschichte dieser Museumsdinge geschrieben werden? Welche Perspektiven lohnen sich, sie zu berücksichtigen für eine Geschichte der 14 Herzen im Museum? Wo könnten sich Überraschungen ergeben, was sind bisher unbeschrittene, oder zumindest weniger gegangene Wege der analytischen Beschreibung?
Während des Streaming Festivals zu den Critical Zones wurde an unterschiedlichen und zahlreichen Stellen betont, wie wichtig es sei, sich unabhängig(er) zu machen, um andere Geschichten erzählen zu können. Wer immer nur im ‚Aber‘ verbleibe, könne nur kritisieren, jedoch nichts schaffen. Eyal Weizman (unten links im Bildschirm), Gründer von forensic architectue, Donna Haraway, die grande dame der feministischen Wissenschaftsgeschichte und Lynn Margulis, Biologin und Pionierin der Gaia-Hypothese sind sich darin überraschend einig und machen die Notwendigkeit der (radikalen) Formänderung zugunsten der ebenso radikalen Veränderung des Denkens in ihren Programmen, Geschichten und Gegenständen plastisch und in gewisser Weise zwingend.
Eyal Weizman formuliert in Bezug auf die materiellen Spuren, die forensic architecture auswertet, emphatisch: Man braucht Vorstellungsvermögen, daraus etwas zu schaffen. Wir brauchen eine Zusammenarbeit von maschinellem und menschlichem Gedächtnis. Das Entscheidende geschehe zwischen Form und Auseinanderfallen (Weizman, Streaming Festival, Podiumsgespräche – Teil 1, Freitag 22.5., 19:45–20:50 Uhr). Lynn Margulis lehnt Begriffe wie „Kooperation“ und „Wettbewerb“ für die Beschreibung biologischer Prozesse ab. Sie seien (viel zu) anthropozentrisch und voller Vorannahmen. Um das kompetitive und letztlich dem kapitalistischen Verwertungsgedanken verschriebene darwinistische System wirklich zu verlassen, das heißt eine neue Weltsicht, eine neue Vorstellung des Lebens zu beschreiben, brauche es auch neue Begriffe: At a certain point it is a matter of choosing your metaphor (Margulis im Film Symbiotic Earth, Streaming Festival, Sonntag 24.5., 21:40–00:10). Aus der Bildlichkeit gebe es kein Heraustreten, welches Bild, welche Vorstellung und damit auch welches Modell der Welt man nutze, dass sollte umso mehr eine bewusste Entscheidung sein.
Donna Haraway betont im Film Storytelling for Earthly Survival ebenso wie im anschließenden Gespräch mit Bruno Latour (Streaming Festival, Sonntag 24.5., 18:15–20:50 Uhr), dass es zwischen Erzählen und Denken eine kritische Verbindung gebe. Storytelling is thinking. Thinking is a materialist practice with other thinking. And some of the best thinking is done in storytelling. Entscheidend für eine Veränderung des Denkens in und von der Welt sei, sich gegenseitig zu befähigen, die Geschichte zu ändern. Geschichten seien dafür deshalb so notwendig, weil sie Raum geben für das, was (sonst) nicht auszusprechen ist: Good thinking happens in the moment of speechlessnes (Haraway im Film Storytelling on Earthly Survival). Da, wo die naheliegende Sprache sich verweigert, liegen die relevanten Gedanken. Da, wo die etablierte Form des Denkens ohne Griff ist, muss anders erzählt werden.
Ich suche für die 14 Herzen im Deutschen Medizinhistorischen Museum eine neue Geschichte. Eine, die mehr umfasst als das Ergebnis nüchterner Suche nach Daten und angemessener ist als ein Cliché. Wird es eine Geschichte sein oder verschiedene, so wie die Herzen auf unterschiedliche Leben und Krankheiten verweisen? Die treffende Sicht der Herzenswelt im Museum fehlt mir noch. Die Suche danach eröffnet indes manch schönen Ausblick.
Fotos © Johanna Lessing
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Johanna Lessing ist Doktorandin am Kolleg “Wissen | Ausstellen”. Ihr Promotionsvorhaben fragt mit der Analyse von medizinhistorischen Ausstellungssituationen nach Objektstrategien und Praktiken des Umgangs mit menschlichen Überresten am Übergang von ‚Personen‘, ‚Stücken‘ und ‚sensiblen Objekten‘.
Der Beitrag wurde redaktionell betreut von Johanna Strunge, Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“.
Zu den anderen Beiträgen der Critical-Zones-Reihe:
Critical Zones I: Juhu, eine Vernissage
Critical Zones III: Dazwischen – Gedanken zum Streaming-Festival und den „Cricketical Zones“
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