›Lieber-so-lassen‹ vs. ›Werdet-endlich-politisch!‹ Ein Streitduell über das Museum und was es sein kann

Ein Beitrag von Daniela Döring und Johanna Lessing

Presidential debate 1960 © Wikimedia vs.
Quo vadis Museum? 2020 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jule Roehr


Die erste im Rundfunk übertragene Wahlkampfdebatte in den USA fand im Jahr 1948 statt. Zu diesem Zeitpunkt war die erste international beschlossene Beschreibung dessen, was ein Museum ist und sein soll, bereits zwei Jahre alt. Seitdem ist die Museumsdefinition vom Internationalen Museumsrat (ICOM) mehrmals verändert, aber bislang nie grundsätzlich in Frage gestellt worden. Welche Transformationen sie bis heute durchgemacht hat, lässt sich im Archiv der ICOM Website nachlesen. Über das Mantra vom ‚Sammeln, Bewahren, Erforschen und Vermitteln‘, das in diesem Wortlaut seit 1974 gilt, wird derzeit heftig gestritten.

In Berlin trafen am 30. Januar 2020 im Lichthof des Jüdischen Museums zwei Kontrahent*innen der Debatte aufeinander, um über die Frage „Quo vadis Museum?“ zu streiten. Ganz im Sinne einer Fernsehduell-Kultur traten gegeneinander an: Markus Walz, Professor für Theoretische und Historische Museologie an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK) und Mitglied des Vorstandes von ICOM Deutschland, und Léontine Meijer-van Mensch, Direktorin der Staatlichen Ethnographischen Sammlungen Sachsens und Mitglied des ICOM Executive Boards.

Bereits vor einigen Jahren beschloss ICOM, die in ihren Statuten verankerte Museumsdefinition zu überarbeiten. Bei internationalen round tables wurden drei Jahre lang verschiedene Formulierungen diskutiert und entwickelt; ein Neuvorschlag kam im September 2019 in Kyoto zur Abstimmung. Der Vorstand der ICOM Deutschland stimmte indessen weder dafür noch dagegen. Er schloss sich einem Antrag der ICOM Europe an, der mit 70% der Stimmen angenommen wurde und das Voting nunmehr um mindestens ein Jahr verschiebt. In dieser Gemengelage entbrannte eine hitzige Debatte im deutschsprachigen Raum, die durch eine Petition eine größere Öffentlichkeit erreichte. Diskutiert wird seitdem, ob dieser Aufschub gerechtfertigt und wie demokratisch der Prozess der Überarbeitung gewesen sei, ob der Vorstand seine Mitglieder angemessen vertrete, welche Begriffe enthalten bzw. entfallen sollten, was sie bedeuten, und ob eine Definition überhaupt nötig sei.

Aktuelle Definition, Annahme 22. ICOM Konferenz 2007
“A museum is a non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.”

Neufassung, Abstimmung 25. ICOM Konferenz 2019
“Museums are democratising, inclusive and polyphonic spaces for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust for society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage for all people. Museums are not for profit. They are participatory and transparent, and work in active partnership with and for diverse communities to collect, preserve, research, interpret, exhibit, and enhance understandings of the world, aiming to contribute to human dignity and social justice, global equality and planetary wellbeing.”

Quelle für beide Definitionen: https://icom.museum/en/activities/standards-guidelines/museum-definition/


Von den in den letzten Monaten sehr emotional geführten Debatten um – so Léontine Meijer-van Mensch – „Leben und Tod“ bekommen die ca. 500 Zuschauer*innen an diesem Abend einen lebhaften Eindruck. Die Moderator*innen Johannes Berger, Leonie Erbe, Kristina Iskonova, Rebecca Stoll und Luna Weis – Studierende des Masterstudienganges Museumsmanagement und -kommunikation der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) – gehen strukturiert und forsch vor. Sie messen die Redezeit, unterbrechen auf frische Weise ihre Referent*innen und kontextualisieren ihre Fragen. Hinter dem Pult bleibt dabei keiner der beiden ICOM-Vertreter*innen. Vielmehr werden sie von souveränen, provozierenden und zähmenden Dompteur*innen durch die Manege getrieben. Doch die herumtigernden Redner*innen lassen sich kaum in den vorgesehenen Bereichen hinter ihren Stehtischen halten. Während Markus Walz in patriarchaler und übergriffiger Manier gerne auch einmal sein Refugium überschreitet und Léontine Meijer-van Mensch auf den Leib rückt, tritt diese beherzt den Angriff nach vorn an und erobert den Bereich vor ihrem Pult. Auch das Publikum ist aufgefordert, Fragen online (slido) einzugeben; die mit den meisten Likes werden im letzten Teil des Streitgespräches von Alina Gromova und Susan Kamel, die den Abend initiiert und gemeinsam mit den Studierenden vorbereitet hatten, an die Redner*innen gestellt. Einige der Streitpunkte listen wir nachfolgend auf und rekonstruieren sinngemäß die Argumente der beiden Redner*innen.

War die Entwicklung der neuen Definition ein demokratischer Prozess?

Die Entscheidungsprozesse im Vorfeld waren undurchsichtig und die Mitgliedsländer nicht transparent und gleichwertig eingebunden gewesen. Vor allem hat der Wortlaut des Definitionsvorschlags erst wenige Wochen vor der Kyoto-Konferenz vorgelegen. Das war viel zu kurzfristig, um eine fundierte Position zu entwickeln, bzw. sich untereinander abzustimmen.

Drei Jahre entwickelten internationale Arbeitsgruppen den aktuellen Vorschlag, dieser ist der ICOM Deutschland vorgelegt worden. Der Prozess war transparent und entsprechend den Verbandsrichtlinien behandelt worden. Die Mitglieder des Executive Boards haben zugehört, das war dringend nötig. ICOM Deutschland hätte für oder gegen den Vorschlag stimmen können, das Votum auf Verschiebung aber missachtet die geleistete Vorarbeit.


In der Berliner Manege spitzt sich an diesem Abend das Duell schnell zu. Während Walz anfangs überlegen und gelassen gegenüber seiner Kontrahentin Meijer-van Mensch auftritt und die Zuhörerenden geneigt sein könnten, seine phrasenhaften Antworten als duellfördernde Provokation zu deuten, verliert sich diese Hoffnung schnell in Resignation. Es bleibt seine einzige Taktik des Abends, die sich zunächst nur als phantasielos, allmählich als bockig und schließlich als hoffnungslos unterlegen erweist. In der ersten Phase hat er damit durchaus Erfolg: Meijer-van Mensch bleibt leicht unter ihrer Redezeit und ist in der Defensive, den Definitionsfindungsprozess als demokratisch und transparent auszuweisen.

Schließen sich open spaces und dauerhafte Institutionen aus?

Die Kontinuität und Abgrenzung als feste Institution ist enorm wichtig. Eine feste Definition durch ICOM bietet Schutz. Museen müssen als permanente Einrichtungen abgesichert und legitimiert werden. „Spaces“ weichen das Museum ins Beliebige auf. Wir brauchen eine verbindliche Definition, sonst könnte sich alles und jede*r Museum nennen und man kann niemanden mehr ausschließen! Wenn Museen als politische Orte verstanden werden, sind sie zunehmend dem Willen der Regierung ausgesetzt.

Eine demokratische Öffnung ist notwendig. Sie entspricht den Anforderungen einer zeitgemäßen Museumsarbeit: divers, gleichberechtigt, anti-hegemonial und mit politischer Haltung. ICOM ist nicht nur Europa. Die Neudefinition wurde v.a. von Vertreter*innen nicht-europäischer Länder vorangetrieben; die alte Definition verharre in westlicher Tradition. Mit dem neuen Definitionsvorschlag wird mehr Handlungsspielraum auch gegen Regierungen und für demokratisierende Prozesse möglich.


Manege auf oder zu, wer soll rein, wer raus? In Phase zwei laufen Meijer-van Mensch und Walz verbal heiß und tigern um ihre Tische herum. Sie unterbrechen sich gegenseitig. Walz versucht mit Wiederholungen und Übertreibungen zu punkten. Auf die von ihm geäußerten Bedenken kleiner und mittelgroßer Häuser, reagiert seine Kontrahentin prompt und macht sich über die sogenannten Heimatmuseen lustig. Mindestens implizit wirft sie ihm Provinzialismus vor und schafft es nicht, von ihrer globalen Perspektive auf hiesige Ängste prekärer Institutionen zu zoomen. Im späteren Verlauf wird deutlich werden, dass Meijer-van Mensch das auch gar nicht will, sondern entschieden für eine De-Europäisierung und De-Kolonialisierung der Argumentationen eintritt. Die gesamte europäische Geschichte der ICOM-Definition seit 1946 sei von ihrer Traditionsmacht zu befreien und trotz oder gerade wegen personellen und finanziellen Überhangs im Weltgremium weniger schwer zu gewichten. Gegenüber dem (zu Unrecht als altbacken verbrämten) Heimatmuseum wird ein fluides, aktivistisches Museum ins Feld geführt und beide Pole der Definition als unversöhnlich gegeneinander ausgespielt.

Wie wird Wissen in Museen verstanden? Kommunizieren versus Interpretieren

Museen sind Orte von gesichertem und verlässlichem Wissen. Es geht darum, konkrete Bildungswerte zu vermitteln. Dieser Bildungsauftrag (‚education‘) ist aus der Neudefinition völlig verschwunden.

Wir können heute nicht mehr eindeutige, universelle Geschichten erzählen und ausstellen. Wir brauchen polyphone, multivokale Räume, in denen um Deutungsmacht gestritten und verhandelt werden kann. Interpretieren heißt, ein Deutungsangebot und die zugrunde liegende Haltung sichtbar zu machen!

Was hat es mit dem Begriff planetary wellbeing auf sich? Wie positionieren sich Museen im Weltmaßstab?

Der Begriff ist zu groß und völlig unklar, was gemeint ist. Museen können nicht für den gesamten Planeten verantwortlich gemacht werden.

Museen müssen sich zunehmend ihrer Verantwortung für die Umwelt, Klima und Ressourcen bewusst werden. So sollte z.B. stärker über Strategien des Entsammelns nachgedacht werden. Depots und Erhaltungskosten können nicht unendlich wachsen.


Währendessen wird es auf der Online Plattform slido immer betriebsamer. Direkt zum Thema heißt es da etwa „Herr Walz: Was ist planetary wellbeing? Die Erde: Wer ist Herr Walz? #justsaying.“ Auch im Publikum wird es zunehmend unruhig. Einzelne Unmutsbekundungen und ein spontaner Beifall lassen Anteilnahme, aber auch die Vorlieben der Zuschauer*innen erkennen. Es wird Zeit für die online gesammelten und per Direktwahl in die Manege gehievten Publikumsfragen.

Welche Konsequenzen hätte die neue Definition für die Museumsarbeit?

Keine Ahnung, ich bin ja kein Arbeitgeber.

Arbeitsbiografien könnten anders angeschaut, Personal diverser auf- bzw. eingestellt werden.Restitutionsforderungen könnten besser erfüllt und anstatt sich dem Credo Bewahren und Besitzen zu verpflichten, andere Formen der Zusammenarbeit gefunden werden.

Bildet sich in der Debatte ein Generationenkonflikt ab?

Da sind wir kurz vor der Altersdiskriminierung! An dem Alter sei ja nun nichts zu ändern. Und ständig darüber zu reden, macht auch keinen Unterschied.

Wenn man sich in der ICOM umschaut, sieht man vor allem graue Häupter, auch wenn es immerhin nicht mehr nur weiße Männer sind. Ältere sollten als Mentor*innen wertgeschätzt werden, sie bilden aber auch strukturelle Ungleichheiten ab, die sich ebenso im Museum zeigen.


Bevor Dompteur*innen und Kontrahent*innen den Platz verlassen, sollen letztere in drei Worten formulieren, was für sie in einer Neudefinition von Museum zentral sein soll. Markus Walz will die Begriffe „Dinge, Dokumentieren, Vermitteln“ vertreten sehen, Léontine Meijer-van Mensch führt „Haltung, Verantwortung und einen kritischen Umgang“ an. Kürzer lassen sich die konträren Vorstellungen davon, was ein Museum sein soll und kann, nicht auf den Punkt bringen. Während die konservative Haltung an einer notwendigen, eindeutigen Definition festhält, setzt sich die andere für eine Vision ein, die vor allem von einem postkolonialen Diskurs vorangetrieben und eingefordert wird. Übersetzungsprobleme lauern indessen nicht nur zwischen den Generationen und Diskursen, sondern auch in den Sprachen. Markus Walz weist wiederholt auf die sprachlichen Ausdifferenzierungen gerade im Englischen hin, die viele Mehrdeutigkeiten und Unschärfen mit sich bringen. Vielleicht kann eine eindeutige Definition schon deshalb nur fehl gehen. Wesentlicher ist das, was in den jeweils letzten Vokabeln der Drei-Wort-Definitionen kondensiert und grundsätzliche Richtungsentscheidungen erfordert: Sollen die bisherigen Werte des Museums bestehen bleiben, die erhöhte Deutungsmacht gestärkt und die Distribution bestimmten Wissens unterstützt werden? Oder soll das Museum ein potentiell aktivistischer Ort sein können, der vielfältige Stimmen ermöglicht und dafür den Alleinplatz (freiwillig) räumt? Das Publikum jedenfalls hat sich an diesem Abend entschieden. Die Sympathie – bekundet durch Beifall, Raunen, Fragen, auch mal mit Zwischenrufen und in anschließenden Gesprächen bei Brezel und Wein – liegt eindeutig bei der Vertreterin des internationalen Executive Boards, auch wenn die Argumente durchaus kritisch hinterfragt werden. Mit 24 Likes schaffte es die nachfolgende Frage zwar nicht auf das Podium, aber dennoch auf eine vordere Position im Ranking: „Gehört Herr Walz in ein Museum, weil seine Ideen über Institutionen, Politik und Veränderungen uralt sind?“ Schade eigentlich, dass das sicherlich ebenfalls gerechtfertigte Unbehagen und eine möglicherweise konstruktive Kritik an der Neudefinition auf solche Weise vertreten völlig untergeht.

Was für den Abend ein überaus unterhaltsames Streitformat darstellte, dürfte in der Museumslandschaft viele weitere Kämpfe und Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Viele Fragen bleiben offen und sind weiter zu diskutieren: Inwieweit kann ein Museum demokratisierend wirken; durch welche Strategien und Positionen? Wer entscheidet, welche polyphonen Stimmen gehört werden? Wie divers ist ICOM? Wie kann eine Definition (Vereinheitlichung) die Vielfalt der Museumslandschaft fördern? Braucht es eine Definition oder doch eher eine Vision vom Museum? Zu hoffen bleibt, dass die Argumente weiterhin so spielerisch und leicht in den Ring geworfen werden und sich durch kluge Moderation und experimentelle Räume an eine faire Gesprächsführung gehalten wird. Das Museum ist eben nicht nur das, was definiert wird, sondern auch das, als was es gelebt wird.


Daniela Döring ist Postdoktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“. Sie erforscht die Ausstellungsgeschichte wissenschaftlicher Sammlungen und folgt dem Planungsprozess des FORUM WISSEN ethnographisch.

Johanna Lessing ist Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“ und untersucht menschliche Präparate zwischen Forschung, Schaulust und öffentlicher Debatte.

Der Beitrag wurde von Frauke Ahrens (stud. Hilfskraft am Kolleg „Wissen | Ausstellen“) und Farina Asche (Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“) redaktionell betreut.

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