Critical Zones I: Juhu, eine Vernissage

Ein Beitrag von Johanna Lessing

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte das Zentrum für Kultur und Medien (ZKM) seine neue Ausstellung Critical Zones – Horizonte einer neuen Erdpolitik nicht wie geplant eröffnen. Die Ausstellung war nicht fertig, ohnehin hätte mitten im  Lockdown niemand oder kaum jemand kommen dürfen. Das ZKM hat aus der Not eine Tugend gemacht und stattdessen ein dreitätiges Hybrid-Spektakel aus Online-Podien, virtuellen Führungen, Film-Streamings und Gesprächen veranstaltet. Vom 22. Bis 24. Mai fand diese Virtuelle Eröffnung und Streamingfestival: Critical Zones statt, kuratiert von einer Gruppe um Bruno Latour und Peter Weibel. Wir, Ramona Bechauf und Johanna Lessing, haben mitgemacht und sind nachhaltig beeindruckt. In einer kleinen Artikelserie gehen wir Beobachtungen und Anregungen aus dem Festival nach.

„Wir haben die Zukunft des Museums neu erfunden; vielleicht sogar die des Fernsehens.“

Peter Weibel, 22. Mai 2020

Natürlich sind wir zu spät dran. Ich arbeite noch bis zehn vor sechs, Corona-Homeoffice macht‘s möglich. Jetzt aber schnell. Klamotten gewechselt, rein in den kulturakademisch angemessenen (natürlich) schwarzen Jumpsuit, lässig aber elegant. Haare kämmen, etwas Extravaganz über die Wahl der Ohrringe (je eine Kirsche am goldenen Stiel) und der passende dunkelrote Lippenstift. Keine ernstgemeinte Vernissage ohne Lippenstift. Parallel dazu Laptops aufbauen, Link zum Stream finden, warum ist das Internet eigentlich in Bayern so langsam, die Kollegin in Warschau anskypen, die Oliven in eine Schale füllen. Kompliment zum „kleinen Schwarzen“ in die Kamera rufen, sich selbst einmal drehen und begutachten lassen, die Weingläser aus dem Schrank holen, den Hummus bereitstellen und klären, was eigentlich das Problem mit dem Youtube-Link ist: Ist das bei dir in Warschau auch so? Sind wir zu spät, geht es schon los? Gut, dass wir keine Plätze suchen müssen. Das Video startet, zu leise, ah das geht allen so, dann warten wir mal ab. Mona, siehst du uns? Wir wollen anstoßen. Da, es geht los, chinchin, auf einen schönen Abend, na da bin ich mal gespannt.

Wo eigentlich und wie

Ich gehe zur Eröffnung mit meiner Mitbewohnerin und mit meiner Kollegin Mona. Meine Mitbewohnerin steht neben mir und meine Kollegin in ihrer Warschauer Wohnung. Mit der Mitbewohnerin stoße ich Glas an Glas, mit Mona Glas an Laptopkamera. Mit der Mitbewohnerin spreche ich Luft zu Luft, mit Mona in den Pausen über Skype, denn sie ist auf dem zweiten Laptop zugeschaltet. Ebenfalls mit dabei sind das Team im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, die verschiedenen Sprecher*innen in ihren privaten Räumen, Bruno Latour in seinem Landhaus, eine wachsende Chat-Community in der Telegram-Gruppe zkm_criticalzones und natürlich hunderte andere Zuschauer*innen des Life-Streams bei Youtube, wahlweise in Englisch oder Deutsch.

Wie auf einer realräumlichen Vernissage treffe ich gleich zu Beginn eine Bekannte, die ich ewig nicht gesehen habe, aber eigentlich sehr gerne mag und von der ich weiß, dass sie sich für ähnliche Dinge wie ich interessiert. Es ist also durchaus plausibel, sie auf einer Vernissage zu treffen. Allerdings nicht in Karlsruhe, wo wir beide wohl die Ausstellung besuchen werden, wenn sie dann mal fertig ist und man wieder reisen darf…, aber sicher nicht zur Vernissage fünf Stunden durch die Republik gefahren wären. Wo ich sie treffe? In der Telegram-Chatgruppe, die parallel zum Stream besteht. Einer anderen Freundin hatte ich am Tag zuvor den Link geschickt, sie antwortet mit einem Selfie von Latour im Landhaus und sich auf ihrem Berliner Balkon.

Alles auf einmal und gleichzeitig

Während der französische Philosoph im Zoomfenster davon spricht, dass Ausstellungen die Welt verändern können und eine Drohne in Karlsruhe durch die halbdunkle Exposition fliegt, versuche ich, die Dokumentation des Ganzen nicht aus dem Blick zu verlieren, genauso wie die simultane Konversation auf mehreren Kanälen – mit den physischen und digitalen Anwesenden, den verabredeten wie den zufällig getroffenen. Dazu kommen Selfies vor dem Bildschirm und deren instantaner Austausch, Nachrichten, erste Kommentare und Notizen. Ganz schön fordernd so ein Setting. Gegen 20:30 Uhr verarbeite ich erstmals wirklich, was da eigentlich von wem gesagt wird. Das merke ich, als ich verstehe, wovon Eyal Weizman von forensic architecture spricht, in seinem Beitrag zu Wolken. Wolken, die Hinweise und Spuren liefern zu Geschehnissen, Konzentrationen von Kalium, Phosphor oder Tränengas. Spuren, die nicht statisch, sondern flüchtig sind, den Blick verstellen, unsichtbar machen, nicht fest verortet sind. [Dazu mehr in Folge II der Reihe]

Nachts wird’s lustig

Mona spricht, gestikuliert oder schaut einfach nur von ihrem Platz im Bildschirm auf dem oberen Küchenregal. Wir kommunizieren per Skype in den Pausen und via Telegram während der Beiträge, kommentieren das Geschehen, zitieren Sätze, stellen Fragen, fachsimplen über die Inszenierung der verschiedenen Zoom-Lokalitäten und lästern gelegentlich über Attitüden, Pannen und Belanglosigkeiten wie auf jeder anständigen Vernissage. Der Abend entwickelt sich ganz wie jede lange Nacht im Museum. Mit fortschreitender Zeit wird es lockerer, witziger, man merkt allen Beteiligten das Unter-Strom-Sein an. Anders als in manch anderen Veranstaltungsformaten wird es auch nach Stunden weder redundant noch ermüdend. Stattdessen bleibt es ununterbrochen unterhaltsam, klug und menschlich. Während es in den virtuellen Puppenstuben der Referent*innen unterschiedlich schnell dunkel wird, lockern sich auch bei den Moderatorinnen Wirbelsäulen ebenso wie Mundwinkel. Irgendwann gegen zehn huscht bei „Bruno”, wie er heute Abend allseits genannt wird, die Ecke eines dunkelroten Etiketts auf grünem Flaschenglas durch die Kamera. Gegen 23:30 Uhr wird sich online eine Zigarette gedreht, bis kurz vor Mitternacht das Team vor Ort sich swingend, Ellbogen hebend und den OFF-Ton nicht mehr ganz im Griff in die Nacht verabschiedet.

Criquetical zone

Die Critical Zones Chat-Gruppe lassen wir während all dem links liegen. Als ich weit nach Mitternacht durchscrolle, sehe ich im Chatverlauf: Er ähnelt der Dynamik unseres Abends frappierend. Es finden sich dort Frotzeleien über die Bücherregale von Simon Schaffer ebenso wie eine charmant überhebliche Diskussion der Powerpoint-Kompetenzen von Tim Lenton: “Vielleicht probieren wir es mal mit f5” wird die Moderation in Karlsruhe zitiert bei dem Versuch seine Desktop-Ansicht, als sie denn endlich im Bildschirm geteilt wird, auch in den Präsentationsmodus zu heben – vergeblich, wie die community nicht versäumt festzuhalten. Die in jeder Hinsicht großartige Moderatorin Barbara Kiolbassa evoziert zahlreiche Smile-Fontänen und allseitige Bewunderung. Sechs Stunden lang in zwei Sprachen die verschiedenen Plattformen und Persönlichkeiten zu jonglieren und dabei immer am richtigen Punkt zu sein und stets mit einem konstruktiven Schwung versehen, das ist die wahre Meisterleistung des Abends!

Zur blauen Stunde werden die Grillen in Bruno Latours französischem Garten aus dem Chat heraus sprichwörtlich für das ganze Festival: von der critical in die criquet in die criquetical zone mit ihrem multiplen Zirpen und Rauschen. Die criquetical zone ist aktiv. Eine längere Chat-Passage widmet sich dem augenöffnenden Vortrag von Sebastian Detrouilt im zweiten Podiumsgespräch. Und schließlich bleibt der nackte Mann in der virtuellen „Open Bar“ des ZKM von der community nicht un-criqueticalized. Der Vorfall illustriert kurz vor dem Ende des ersten Festivaltages, sozusagen in actu, was Freizügigkeit und globale Zugänglichkeit im Digitalen leider ebenfalls heißen kann. Im Chat liest man eine ebenso elektrisierte wie wertschätzende Belebtheit „hier” dabei zu sein. Das Gefühl, trotz aller kulturtheoretischen Abgeklärtheit und coronabedingten digital-distanzierten Routiniertheit, etwas Besonderes mitzuerleben, das scheinen viele der fast 900 Chatteilnehmenden an diesem Abend mit mir zu teilen.

Das Festival hat noch zwei Tage mit weiteren neuen Kombinationen vor sich. Heute war ich sechs Stunden lang gleichzeitig auf einer Konferenz, in einer Ausstellung, auf einem Netzwerktreffen, in einer schönen Bar, an meinem Schreibtisch und bei Freund*innen zu Besuch. Meine Synapsen sind überhitzt, meine Augen müde, meine Sinne voll. Ist diese Verdichtung des Erlebens und die intellektuelle Immersion die Zukunft des Museums – und des Fernsehens gleich mit –, wie Peter Weibel eingangs prophezeite? Feststeht jedenfalls, dass virtuelle Alternativen zu Vor-Ort-Veranstaltungen kein mageres Substitut sein müssen. Ganz im Gegenteil, das ZKM hat heute gezeigt, dass die Life- oder Präsenzqualität einer Veranstaltung nicht an Geografie gekoppelt ist. Natürlich zieht auch das Streaming-Festival seine Berechtigung aus der künftigen Ausstellung Critical Zones. Und vielleicht hat der Lockdown mehr Menschen für Stunden an die Bildschirme locken können, als im Alltag möglich gewesen wäre. Zuhause, anstatt zum Gehen verhindert inmitten einer Stuhlreihe oder durch Konvention zum Bleiben verpflichtet am Stehtisch im Foyer, schalten die Leute aber aus, wenn es am Bildschirm langweilig wird. Und langweilig war es ganz sicher nicht.  

Fotos © Johanna Lessing

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Johanna Lessing ist Doktorandin am Kolleg “Wissen | Ausstellen”. Ihr Promotionsvorhaben fragt mit der Analyse von medizinhistorischen Ausstellungssituationen nach Objektstrategien und Praktiken des Umgangs mit menschlichen Überresten am Übergang von ‚Personen‘, ‚Stücken‘ und ‚sensiblen Objekten‘.

Der Beitrag wurde redaktionell betreut von Johanna Strunge, Doktorandin am Kolleg „Wissen | Ausstellen“.

Zu den anderen Beiträgen der Critical-Zones-Reihe:

Critical Zones II: Neue Geschichte für alte Herzen

Critical Zones III: Dazwischen – Gedanken zum Streaming-Festival und den „Cricketical Zones“

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